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Mehrfahrgelegenheit

Carsharing gilt als Verkehrskonzept der Zukunft, gerade in Berlin. Die einen macht die Ich-Mobilität glücklich, andere reich, manche wütend. Eine Positionsbestimmung – und eine Datenanalyse

 

Ein Projekt von MEHR BERLIN

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Beschleunigung

Da. Und Dort. Da, wieder eins. Noch eins. Rast vorbei. Da. Nein, das war das von grade eben. Der Typ sucht einen Parkplatz. Boxhagener Platz, später Nachmittag. Der Schwarm rotiert. Ist eins frei? Wir könnten ein Cabrio nehmen. Der da vorne stellt seins gerade ab. Wie geht denn das Verdeck auf? Keine Ahnung, nie gemacht.

„Man muss das“, sagt der Verkehrsexperte, „als ein großes Bild denken, von dem man aber zwei Schritte zurücktritt, um die Einzelheiten zu erkennen. Ähnlich wie beim Pointilismus.“ Der Mann meint Carsharing, das schöne neue Ding der mobilen Elite, er schwärmt davon, wie es sich einfügt in die Allverfügbarkeit der Dinge.


Alle sind dafür
Punkte also. Punkte, die erst durch die Distanz mehr sind als ein Klacks, als Ballung und Chaos. Mit wachsender Entfernung die Zusammenhänge sehen. Es ist ja auch wirklich alles neu auf dem umkämpften Mobilitätsmarkt. Carsharing zeigt, wie eine Zukunft aussehen könnte, die womöglich schon begonnen hat. Es geht um die Art, wie Menschen sich künftig in Städten fortbewegen. Ob es mehr Raum für individualisierte Interessen geben wird oder weniger. Und ob das dann auch bedeutet, dass einige mehr Freiheiten für ihre Ich-Mobilität beanspruchen dürfen und andere weniger.


Es ist eigentlich jeder dafür. Die Grünen propagieren Carsharing schon lange. Die SPD brachte erstmals vor zehn Jahren einen Gesetzentwurf für die Sache ein. Große Autokonzerne stehen dahinter, die Bahn auch. Sogar die CSU forciert es, in Person des Verkehrsministers. Das Carsharing-Modell hat eine ganz große Koalition im Rücken. So weit, so gut. Wo ist das Problem?

Jan Ricker ist auch dafür. 50 Jahre alt, kinderlos, mit Dachgeschosswohnung in Prenzlauer Berg. Er gehört als Manager aus der Film- und Medienbranche zu denen, für die das Wort dynamisch extra hätte erfunden werden müssen. Scharfer Laufschritt, wenn er seine Runden im Friedrichshain dreht. Geht er aus dem Haus, hat er üblicherweise nicht mehr dabei, als in seine Hosentasche passt. Das Smartphone trägt er in der Hand. Zum Beispiel am Freitag vergangener Woche: Ein Freund hat als Treffpunkt das Café am Neuen See vorgeschlagen. Okay, sagt sich Jan Ricker, war ich lange nicht mehr. Und im Kopf geht er seine Optionen durch. Soll er das Fahrrad nehmen? Zu weit weg, er wäre durchgeschwitzt bei der Hitze. Die Öffentlichen? Dauert zu lange. Er wird es wie immer machen. Ricker ist „heavy user“, wie er das nennt. Seit er den Firmenwagen abgegeben hat, greift er regelmäßig auf Carsharing-Angebote zurück.

Beim Zuziehen der Wohnungstür schaut Ricker auf seinem Smartphone nach, ob ein Auto in der Nähe steht. Keins da. Gibt’s doch nicht. Prenzlauer Berg ist wohl schon aufgebrochen. Aber er könnte sein Fahrrad nehmen und ein Car2go-Fahrzeug an der Straßenbahnhaltestelle erwischen. Vorteil für den Heimweg: Er könnte trinken. Ricker reserviert das Gefährt. Es ist jetzt für die Dauer von 15 Minuten blockiert.

„Es ist ideal“, sagt Ricker, lächelnd in die Pedale tretend. Er kennt die Studie von Stiftung Warentest, derzufolge sich Carsharing für jeden lohnt, der im Jahr weniger als 10 000 Kilometer mit dem Auto zurücklegt. Bei Ricker ist das der Fall. Meistens fliegt er. Oder er fährt zu Meetings in anderen Städten mit der Bahn. „Es ist mir völlig egal, was für ein Auto auf mich wartet“, sagt er. „Mein einziges Kriterium ist Verfügbarkeit, ich nehme immer das nächstgelegene Auto. Wofür brauche ich einen eigenen Wagen, wenn ich meine Individualität hier mit mir herumtrage.“ Er dreht und wendet sein Smartphone. „Mein Handy kommuniziert mit dem Auto und speichert die Radiosender, die ich hören will, die Navigationsdaten, alles genau so, wie es in meinem eigenen Auto wäre.“


Ich-Mobilität
Ricker hat auch diesmal kein Problem, am Zielort eine Lücke für den Smart zu finden. Es finde sich immer eine, sagt er, geübter Freiraumblick. Und rechnet noch mal nach. Die Fahrt war jetzt: halb so teuer wie mit dem Taxi, doppelt so schnell wie mit der U-Bahn. Aber eine Sache nervt ihn dann doch. Dass er jetzt so viele Plastikkarten in seinem Portemonnaie mit sich herumtragen müsse, für jeden Carsharing-Anbieter eine.

Man muss Jan Ricker, den Manager, gar nicht fragen, wie er sich Autofahren in Zukunft vorstellt. Er kommt selbst darauf zu sprechen und denkt an automatisch gesteuerte Fahrzeuge, Marke egal, er besitzt sie ja nicht, denen er sein Ziel sagen würde, und sie brächten ihn auf dem sinnvollsten Wege dorthin. Sie wären verbunden mit anderen Fahrzeugen, ein zentrales elektronisches Gehirn ließe sie Staus umfahren und Ampelphasen ausnutzen. Der Mensch würde sich wie im öffentlichen Nahverkehr bewegen, mit denselben Ansprüchen an dessen Zuverlässigkeit. Der Unterschied wäre: Er führe allein. Es ist der Traum von der Ich-Mobilität.


23/7

Gunnar Nehrke wünscht sich weniger Autos.

Gunnar Nehrke wünscht sich weniger Autos.


Zurzeit haben ihn viele Menschen im Kopf. Carsharing erlebt in Berlin einen Boom. Es verändert das Verhalten einer Bevölkerungsgruppe, die der Idee geteilter Güter noch vor ein paar Jahren nichts hätte abgewinnen können. Seit 2012 ändert sich das Denken. Carsharing-Anbieter wie Car2go, DriveNow und Multicity fluten das Stadtbild mit Autos, die einfach am Straßenrand stehen. Plötzlich wird aus einem ökologischen Ansatz ein cooler Konsum-Akt. Der Trick ist, dass bei dieser Art des Teilens niemand etwas hergeben muss.

„Stellen Sie sich vor, wie viel Straße frei werden würde, wenn wir nicht mehr so viele Privat-Autos hätten“, sagt Gunnar Nehrke, Sprecher des Bundesverbands Carsharing (BCS). Er, Mitte 30, aufmerksames Gesicht, sitzt im obersten Stockwerk eines prachtvoll renovierten Altbaus am Kurfürstendamm und spricht mit der Ruhe eines Menschen, der weiß, dass die Zeit einer Idee gekommen ist.

„Das normale Privatauto steht am Tag 23 Stunden ungenutzt herum und kostet dabei trotzdem Geld“, sagt Nehrke. Das verleite wiederum Halter dazu, das Fahrzeug auch möglichst oft einzusetzen, um die hohen Anschaffungs- und Fixkosten zu rechtfertigen. „Nutzungsdruck“ nennt Nehrke das. Ergebnis: 600.000 Autos, die in Berlin unbewegt auf der Straße stehen. Rechne man die Flächen für den ruhenden Verkehr und den fließenden zusammen, so Nehrke, stünden Kraftfahrzeugen vielerorts mehr als 80 Prozent des Straßenraums zur Verfügung. Dabei spitzt sich ein Paradox immer weiter zu, das die Stadtforscherin Anne Klein-Hitpass so formuliert: „Die Menschen wollen inzwischen am liebsten im autofreien Quartier wohnen aber trotzdem mit dem Einkauf im Auto bis vor die eigene Tür fahren.“

Carsharing verspricht dieses Paradox aufzuheben. Der Besitz eines eigenen Autos wird überflüssig, wenn jederzeit ein Gefährt für Besorgungen und Transporte bereit steht.

Grafik: Kiez-Hopping

Zwischen welchen Kiezen besteht der intensivste Verkehr mit DriveNow und Car2go? Sowohl als Ausgangspunkt (linke Spalte) wie auch als Zielpunkt (rechte Spalte) führt der Boxhagener Platz.

Andreasviertel
425
Andreasviertel
Arkonaplatz
193
Arkonaplatz
Boxhagener Platz
834
Boxhagener Platz
Charitéviertel
413
Charitéviertel
Invalidenstr.
578
Invalidenstr.
Manteuffelstr.
196
Manteuffelstr.
Neu-Tempelhof
231
Neu-Tempelhof
Reichenberger Straße
209
Reichenberger Straße
Reuterkiez
235
Reuterkiez
Samariterviertel
217
Samariterviertel
Traveplatz
304
Traveplatz
Arkonaplatz
520
Arkonaplatz
Boxhagener Platz
757
Boxhagener Platz
Invalidenstr.
225
Invalidenstr.
Kollwitzplatz
439
Kollwitzplatz
Manteuffelstr.
231
Manteuffelstr.
Rathaus Tempelhof
196
Rathaus Tempelhof
Reuterkiez
451
Reuterkiez
Rixdorf
235
Rixdorf
Rüdigerstraße
195
Rüdigerstraße
Rummelsburg
200
Rummelsburg
Samariterviertel
189
Samariterviertel
Stralauer Kiez
197
Stralauer Kiez

Andreasviertel
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Arkonaplatz
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Boxhagener Platz
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Samariterviertel
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Samariterviertel
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Stralauer Kiez

Kaltstart

Markus Petersen bei der Gründung von Stattauto. Foto: David Brandt.

Markus Petersen bei der Gründung von Stattauto. Foto: David Brandt.


So dachte sich das auch Markus Petersen, als er und zwei seiner Brüder Mitte der 80er Jahre über die Anschaffung eines Pkw sinnierten. Dagegen stand natürlich erst mal der Zeitgeist. Ein eigenes Auto in Kreuzberg, das ging nicht, zu bürgerlich. Auch wenn es nur ein kleines sein sollte, wie der Fiat 500, den die Brüder ins Auge gefasst hatten. Hinzu kam die Frage, wie man sich zu dritt überhaupt ein Auto teilen kann. Wie die Schlüsselübergabe organisieren? Wie den anderen mitteilen, wo man das Auto abgestellt hatte? Wie kommunizieren, wer es zu welcher Zeit brauchte? Die drei Studenten wohnten in verschiedenen Teilen von Kreuzberg. Das würde eine ganz schön unpraktische Anschaffung werden.

Sie tranken viel Bier über diesen Fragen. Bis es beschlossen war: 1988 gründeten die Petersen-Brüder die erste Carsharing-Firma in Deutschland, Stattauto. Sie träumten von der autofreien Stadt und wollten dieses Ziel ausgerechnet mit Autos erreichen. Markus Petersen, Wirtschaftswissenschaftler, war für die Zahlen zuständig. 17 Jahre später waren sie pleite. Und das galt vielen als Beweis, dass es die falsche Art von Traum war.


Die Firma im Schrank
War es das? Markus Petersen findet seine Organisationsleistung immer noch phänomenal. Doch er sagt: „Carsharing als Geschäftsmodell taugt nichts.“

Petersen heute vor dem Schrank, in dem alles begann. Foto: Nina Pieroth

Petersen heute. Foto: Nina Pieroth

Petersen ist ein hoch aufgeschossener, drahtiger Mann, das blaue Oberhemd lässig an den Armen hochgekrempelt. Am Mittwoch der vergangenen Woche schreitet er wehmütig durch die leeren Räume seiner früheren Studenten-WG, Paul-Lincke-Ufer, Blick auf den Kanal, knarzende Dielen. Er gibt die Bude auf. Damit entsorgt der 55-Jährige auch die letzten Reste jener Familienangelegenheit, die zum Unternehmen wurde. „Hier“, sagt er, einen Verschlag öffnend, „das war die Firma.“ Gemeint ist ein alter Regalschrank. In dem stand einst auch der Anrufbeantworter, mit dem Petersen das Organisationsproblem mit den Buchungen in den Griff zu bekommen hoffte. Er schlief im selben Raum, schreckte jedes Mal hoch, wenn das Gerät ansprang. Weil das Prinzip mit der Codenummer für die Kunden nicht ganz einfach war, riefen ständig dieselben Menschen an, um vielleicht weit nach Mitternacht, vielleicht auch mit besoffenem Kopf aus einer lärmenden Kneipe heraus mitzuteilen, dass man den Wagen doch etwas länger benötige. Bis Petersen, Schlaf suchend daneben auf der Matratze, dann irgendwann selbst abhob: Mensch Holger, schon gut, das Auto ist verlängert.

Ihre Konkurrenz seien damals die WG-Autos gewesen, sagt Petersen. Er meint damit die informell verliehenen Schrottkisten, die sich mehrere Mitbewohner teilten. Zu Stattauto kamen die Entnervten („Ich hab’ die Faxen so dicke!“), ermüdet vom Chaos, in dem nur immer sie es waren, die auch mal ans Tanken dachten. „Wir erfanden die dritte Person, die das Emotionale am Teilen herausnahm“, sagt Petersen.

Dass es solche Probleme heute nicht mehr gibt, zeigt vielleicht auch, dass eine richtige Idee zur falschen Zeit immer noch eine gute Idee ist. Markus Petersen interessierte sich als Ökonom ohnehin mehr für die Grundlagen. Schon in seiner Diplomarbeit arbeitete er eine allgemeine Theorie des Carsharing aus, was ihn stolz macht, wenn er auch nicht mehr weiß, wo diese Arbeit abgeblieben ist. Wurde sowieso von niemandem rezipiert. Stattauto war dann der praktische Teil, über den er 1993 seine Dissertation schrieb. Darin fand sich auch die Erkenntnis: Wenn es die Technologie mal gibt, die die Transaktionskosten senkt, wäre das größte Problem gelöst.

Transaktionskosten ist Petersens Lieblingswort. Ein kaltes Ökonomenwort. Transaktionskosten entstehen mit dem Aufwand, der einer Nutzung vorausgeht. Die simple Frage, wo das Auto steht, kann hohe Transaktionskosten mit sich bringen. Petersens Vater lieh dem Sohn 17.000 D-Mark. Der kaufte davon einen technisch komplizierten Anrufbeantworter und einen Computer, beides zusammen kostete 10.000 D-Mark. Knapp zwei Drittel des Startkapitals waren verbraucht, und Petersen hatte noch nicht mal ein Auto. Das besorgte er für 3000 DM, einen alten Opel.

Heute hat sich das damalige 10:3-Verhältnis von Informationstechnologie zu Mobilität umgekehrt. Was den Petersens fehlte, war ein Smartphone. Es marginalisiert die Transaktionskosten.

Der erste Stattauto-Slogan – „Nachbarn teilen sich Autos“ – sei etwas christlich geraten, findet Petersen im Rückblick, aber unter den grünen Autogegnern, denen er nun für ihr Fahrvergnügen ein gutes Gewissen verschaffte, war er als Neoliberaler verschrien. „Dass ich Millionär werde, habe ich mir schnell abgeschminkt.“

5000 Kunden und 300 Autos hatten sie zur besten Zeit. Doch trotz einer durchschnittlichen Auslastung von 55 Prozent und einem Jahresumsatz von zwei Millionen DM machten sie kaum Gewinn. Höchstens mal, wenn sich Unfälle häuften und sie die Versicherungssumme einstrichen.

Das lässt Petersen auch skeptisch auf den gegenwärtigen Carsharing-Hype blicken. Die Auslastung könne nicht profitabel sein, meint er. Wie hoch sie tatsächlich ist, wollen Car2go und Co. nicht verraten. Nach unserer Datenrecherche wird ein Auto am Tag im Schnitt vier Mal ausgeliehen.


Benutzen statt besitzen

Noch mehr Sorge bereitet dem Technologieberater Petersen allerdings, dass der Autoindustrie ein Irrtum unterlaufe. Sie halte sich für einen Anbieter von Endprodukten. Sie lebe davon, Autos zu verkaufen, die sich von anderen Autos unterscheiden durch Design, Motorisierung, Komfort und Image, alles Äußerlichkeiten. „Dabei geht es um Netzprodukte“, sagt Petersen. Und fügt kühl hinzu: „Womit im Internet nicht gehandelt werden kann, das wird verschwinden.“ Ein düsterer Ausblick mit weit reichenden Folgen. Die Autoindustrie schickt heute Fahrzeuge auf die Straße, die einen Kauf derselben überflüssig machen. Denn das Netzprodukt ist die Fortbewegung selbst. Warum soll man noch etwas „haben“ wollen, das man doch schon hat?

Die Unternehmensberatung Roland Berger rechnet für den Carsharing-Markt weltweit mit einem jährlichen Wachstum von 30 Prozent bis 2020. Und Shell geht in seinen jüngsten Pkw-Szenarien davon aus, dass der Bestand an Autos in Deutschland ab 2022 abnehmen wird, hauptsächlich aus demografischen Gründen. Schon jetzt sollen deutschlandweit eine Million Menschen bei Carsharing-Firmen registriert sein. Wobei auf dem Markt zwei Wachstumskurven miteinander konkurrieren: eine flache und eine steile. Sie stehen für zwei Systeme.

Da ist das „stationsbasierte“ Carsharing: Autos, die an einem bestimmten Ort ausgeliehen werden, dorthin aber auch wieder zurückgebracht werden müssen. Die größten Anbieter dieser Art sind in Berlin Flinkster, das von der Deutschen Bahn betrieben wird, sowie Cambio und Stadtmobil. Allein 2014 haben die „Stationären“ 18,8 Prozent zusätzliche Nutzer gewonnen und 16,9 Prozent mehr Fahrzeuge angeschafft.

Im selben Zeitraum hat sich der Kundenstamm des „flexiblen“ Carsharing, wie ihn Car2go, DriveNow und Multicity betreiben, um 51 Prozent erweitert, ohne dass dafür der Fuhrpark nennenswert aufgestockt wurde. In diesem System fließen Autos „wie ein lebender Organismus“ durch die Stadt, so beschreibt es ein Betreiber, im Zaum gehalten lediglich von den digital fixierten Linien des Geschäftsgebiets. Vor allem diese „Free Floater“, an denen die Autokonzerne Daimler, BMW und Citroen in Kooperation mit den Autovermietern Europcar und Sixt beteiligt sind, prägen das Bild einer vom Besitz entfesselten Mobilität.

Nach einer Studie des Bundesverbands Carsharing kann ein geteiltes Auto bis zu zehn Privatwagen ersetzen. Der Verband befragte Neukunden, die sich mindestens sieben Monate zuvor bei einem Anbieter angemeldet hatten. 43 Prozent davon besaßen anfangs ein eigenes Auto. Mehr als die Hälfte schaffte es in den folgenden Monaten ab.

Allerdings beziehen sich diese Zahlen, das betont Verbandssprecher Nehrke, nur auf das stationsbasierte Carsharing. Bei den nicht im Verband organisierten Free-Floating-Anbietern dagegen, die derzeit in Berlin den größten Boom erleben, ist ungeklärt, inwiefern sie den Straßenverkehr entlasten – die Ergebnisse entsprechender Studien werden erst für den Herbst erwartet. Bekannt ist über die Nutzer beider Carsharing-Modelle schon jetzt, dass sie überwiegend männlich, in der Regel Akademiker und meist jung sind – beim Free Floating liegt der Altersschnitt laut verschiedener Studien zwischen 25 und 30 Jahren, beim stationären Modell etwas höher.

Die Anzahl der jährlichen Neuzulassungen in Deutschland bewegt sich seit 2007 auf dem Niveau von etwa drei Millionen Fahrzeugen. Die meisten davon sind Firmenwagen. Das Statussymbol Auto läuft Gefahr, für eine junge urbane Schicht an Bedeutung zu verlieren. Doch Klaus Entenmann sagt, der Wunsch nach einem eigenen Auto sei „ungebrochen“. Er setze nur später ein.

Entenmann ist im Daimler-Konzern für einen Zweig verantwortlich, der enorm an Bedeutung gewinnt: Financial Services. Bislang drehte sich in diesem Geschäftsbereich so gut wie alles um Finanzierung und Leasing von Autos. Nun aber investiert der Konzern über diese Sparte massiv in den Aufbau von Netzprodukten. Car2go zählt dazu. Durch seine 75-Prozent-Beteiligung scheint der Konzern endlich eine sinnvolle Verwendung für den Smart gefunden zu haben, den sein Miterfinder, der Swatch-Designer Nicolas Hayek, von Anfang an als Carsharing-Vehikel konzipiert hatte.

Grafik: Sternfahrten

Mit DriveNow vom Flughafen Tegel direkt ins Büro? Oder lieber Samstagsnachts mit Car2go ins Berghain? Auf der Grafik zu sehen sind alle car2go- und DriveNow-Autos, die innerhalb von fünf Wochen um die TU herum geparkt wurden, alle Strecken vom Flughafen Tegel in die Stadt, alle Fahrten zu Ikea an den Samstagen und jene ins Berghain Freitag- und Samstagnacht. Bitte klicken Sie auf das Feld „Visible layers“, um einzelne Orte auszuwählen und zu vergleichen!


Das Amazon der Mobilität
Das Telefonat mit Klaus Entenmann, leidenschaftlicher Harley-Fahrer, dauert keine fünf Minuten, da hat er einem schon von einer neuen App im Daimler-Portfolio erzählt, über die auch Limousinen geordert werden können. „Wenn jemand wissen will, wie er von A nach B gelangt“, sagt Entenmann, „wollen wir ihm das breiteste und einfachste Angebot machen können.“ Mit Moovel baut Daimler eine Plattform auf, die zum zentralen Mobilitätsanbieter werden soll, das „Amazon der Mobilität“, wie Moovel-Chef Robert Henrich in einem Interview mit dem „Manager Magazin“ ankündigte. „Wer den besten Service anbietet, der gewinnt“, sagt Entenmann.

Der Hauptkonkurrent in diesem Wettkampf ist BMW. Die Münchner kaufen ebenfalls Netzangebote dazu. Nicht nur, dass sich die Autohersteller stillschweigend in Mobilitätskonzerne verwandeln. Zu den großen, noch ungehobenen Datenschätzen der digitalen Welt zählen personalisierte Bewegungsprofile. Carsharing-Nutzer liefern sie nun massenweise. Zwar schöpfen die Carsharing-Firmen sie nicht ab, weil dem Datenschutzbestimmungen entgegenstehen. Aber, meint Entenmann, warum sollten sich Bewegungsprofile nicht irgendwann auf Versicherungstarife auswirken, nach dem Motto: Pay how you drive. „Warum soll ein zurückhaltender Fahrer mit einem geringeren Unfallrisiko nicht mit einem günstigeren Versicherungsbeitrag belohnt werden?“

Dashboard

Um das Phänomen Carsharing in Berlin auszuleuchten, hat der Tagesspiegel in einer umfangreichen Datenrecherche die digitalen Spuren analysiert, die Carsharing-Autos im Internet hinterlassen. Ausgewertet wurden fünf Wochen lang die Standortkoordinaten von Fahrzeugen der beiden Anbieter DriveNow und car2go. Jede Viertelstunde haben wir in diesem Zeitraum die öffentlich in den Anbieter-Apps verfügbaren Daten abgefragt. Wertet man die so ermittelten Bewegungsmuster aus, bilden sich Haufen und Dellen in der Verteilung über das Stadtgebiet.

Grafik: Szenekieze machen mobil

In welchen Berliner Vierteln wird das neue Carsharing am Stärksten genutzt? Die Grafik zeigt, wo vom 9. Mai bis zum 14. Juni die meisten Autos angemietet wurden. Je mehr Ausleihen, desto dunkler der Farbton des Kiezes.


Schwerpunkte der Carsharing-Aktivität sind Szenekieze wie der Boxhagener Platz, der Reuterkiez oder die Graefestraße: Die Autoindustrie drängt in Stadtviertel mit überdurchschnittlich jungem Publikum und überdurchschnittlich hoher Fahrradnutzung. Geniale Idee eigentlich: Potenzielle Autokäufer zahlen ihre Probefahrten selbst. Es sei denn, Carsharing-Nutzer merken beim Fahren, dass sie eigentlich gar kein eigenes Auto brauchen, um mobil zu sein. Dann würden die Autobauer sozusagen die Ausstiegsdroge zu ihrer eigenen Ware finanzieren. Das Produkt hat sich dabei nicht einmal verändert, sondern nur die Bedingungen seines Konsums. Es wäre, wie bei Netzprodukten üblich, dieselbe Entwertungswelle, die erst die Musikindustrie und dann die Informationsmedien erfasst hat. In der Hoffnung, mehr Autos abzusetzen, lässt der Hersteller seine Kunden zu einem Spottpreis den wichtigsten Aspekt des Auto separat einkaufen: dass es fährt.


Leistungen, die der Kunde erbringt

Nico Gabriel: Weniger Autos sind auch ein Geschäftsmodell.

Nico Gabriel: Weniger Autos sind auch ein Geschäftsmodell.


Es ist ein gefährliches Spiel. Und in den Straßen Berlins werden derzeit die Regeln ausgehandelt, nach denen es funktioniert. Erprobt wird, wie stark die Kunden als Helfershelfer in das neue Geschäftsmodell einbezogen werden können. Deutlich wird das, wenn man einem Vermietungsexperten wie Nico Gabriel zuhört. Der DriveNow-Chef ist zur Vorstellung des neuen Elektroautos für seine Flotte von derzeit 1040 Fahrzeugen nach Berlin-Kreuzberg gereist. Neben leichten Häppchen und Kaffee werden Fruit-Smoothies gereicht, wahlweise Kirsch-Maracuja oder Banane-Kirsche, in den Pausen läuft seichte Musik. Auf der Bühne steht ein Gepäckfahrrad. Vor dem Umspannwerk am Landwehrkanal ist die Karawane von BMW-i3-Karossen aufgereiht. Die schmucken Dinger sind der neueste Schrei in dem Geschäft, das keine 200 Meter entfernt von den Petersen-Brüdern erfunden wurde. Nur ein Vierteljahrhundert liegt dazwischen.

Beim Mittagessen lässt Gabriel einen zentralen Satz fallen: „Ich kann ja nur bestimmte Leistungen von meinen Kunden verlangen.“ Statt eine Leistung zu erhalten, heißt das, wird der Nutzer eingespannt, dafür zu zahlen, dass er sie selbst erbringt. Die vom Blütenstaub verklebte Frontscheibe reinigen. Den Schadenstand erfassen. Tanken.

Gabriel, gebürtiger Berliner, ist ein junger Mann, der schnell und strukturiert redet. Er kommt vom Autovermieter Sixt, um DriveNow als Startup mit einer 50-Prozent-Beteiligung von BMW aufzubauen. Natürlich sei es nicht einfach gewesen, sagt er, das Carsharing-Modell bei BMW durchzusetzen: Weniger Autos, das klingt nicht gut. „Die Sache sähe auch anders aus, wenn wir nicht so profitabel wären“, sagt Gabriel. Wie bei Start-ups üblich, ist die niedrige Zahl der Mitarbeiter ein Indiz. In Berlin seien es aktuell sieben.


Das Auto als Sender

Antenne fehlt komplett. Der Kunde als Mitarbeiter.

Sendeprobleme. Antenne fehlt komplett.


Auf die Frage, wie sieben Menschen mehr als tausend Autos am Laufen halten können, gibt es zwei Antworten. Eine heißt „Dashboard“. Das englische Wort für Armaturenbrett wird auch für die vielfarbigen Kontrollanzeigen im Steuerungszentrum von DriveNow verwendet, wo sie mit Echtzeitdaten aus den Autos gespeist werden. Da gibt es Angaben zu Sauberkeit und Tankstand, zu bereits vorhandenen Fahrzeugschäden und vor allem zum aktuellen Standpunkt der Autos. Wenn etwas nicht stimmt, rücken Mitarbeiter des „Street Teams“ aus und beseitigen das Problem. Diese Mitarbeiter schließen auch die elektrischen Fahrzeuge an die Ladesäule an, wenn es keiner der Kunden getan hat.

Die zweite Antwort heißt ebenfalls „Dashboard“, aber in sein Gegenteil verkehrt. Denn mitten in das Armaturenbrett ist in all diesen frei umhertreibenden BMWs und Minis ein Bildschirm eingebaut, der dem Benutzer des Autos nicht nur Informationen über das Auto gibt, wie es Dashboards schon immer getan haben, sondern Informationen von ihm verlangt. Geben Sie Ihren Sicherheitscode ein! Bewerten Sie die Sauberkeit des Autos! Gibt es außer den bereits registrierten Schäden weitere?

Das Fahrzeug ist nicht mehr nur ein Empfänger von Daten, wie sie etwa das Autoradio in Musik verwandelt. Es wird zum Sender. Und weil es nicht alles über sich selbst weiß, muss der Nutzer helfen. Er muss Arbeiten erledigen, die es den Carsharing-Anbietern ermöglichen, die normalerweise hohen Betriebskosten eines Autoverleihs zu senken.
Für manche dieser Aufgaben werden „Anreize“ gesetzt. Tanken wird in Freiminuten übersetzt. Wer Autos aus den „kalten Zonen“ des Geschäftsgebiets in belebtere Gegenden überführt, wo sie schneller wieder ausgeliehen werden, der bekommt einen Nachlass. Bei einem Minutenpreis von um die 30 Cent scheint das Anreiz genug. Die letzte Leistung: Der Kunde sucht einen Parkplatz. 30 Prozent des Stadtverkehrs verursacht die Parkplatzsuche, besagt eine Studie. Wen darf es da wundern, dass zum App-Spektrum bei BMW längst auch ein Hilfsmittel wie ParkNow gehört, über das vorab ein Abstellplatz gebucht werden kann.


Stellflächen für Konflikte

Elektrische Lawine mit Konzept.

Elektrische Blechlawine am Paul-Lincke-Ufer


Mit Carsharing setzt die Autoindustrie zum zweiten Mal in ihrer Geschichte zum Angriff auf den öffentlichen Raum an. Im 19. Jahrhundert verleibte sie sich die Straßen ein, indem das Automobil Vorrang vor anderen Verkehrsteilnehmern erhielt. Nun geht es um Stellflächen. Petersen parkte seine kleine Stattauto-Armada zunächst einfach vor seinem Haus, zwischen den Autos der Nachbarn, wo seine Kunden dann suchen mussten. Es sei ein Free-Floating-System auf 200 Metern gewesen, sagt er schmunzelnd. Freier Raum wurde von ihm einfach requiriert. Indem die Free-Floater heute ihre Autos als heimatlose Objekte ins öffentliche Straßenbild einspeisen, wälzen sie die Kosten zu einem Teil auf die Allgemeinheit ab, zu einem anderen bezahlen sie Kommunen für die Nutzung bewirtschafteter Parkräume. Kein Auto stehe heute länger als acht bis zwölf Stunden am selben Ort, sagt Gabriel. Angefangen haben sie mal mit 72 Stunden.

Aber Nico Gabriel sagt noch einen anderen, für einen Auto-Mann bemerkenswerten Satz: Als letzte Bastion gälten den Autobauern in diesem Wettlauf romantische Werte wie Lifestyle. „Markenidentität“ und „Premiumklasse“ sind Gabriels Vokabeln dafür. Das Argument lautet: Um Leute zu animieren, das eigene Auto abzuschaffen, muss der Ersatz besser sein.
Besser in welcher Hinsicht, das ist die Frage. Und mit dieser Frage sollte man nicht Dirk G. ärgern, Familienvater, Vollbartträger, Mitte 40 und Besitzer eines alten Volvo. Er hasst Carsharing. Weil es Menschen wie ihn um den Schlaf bringt. Weil es verantwortungslose Typen dazu animiert, sich im Straßenverkehr wie Henker zu benehmen. Auf der Jagd nach Minuten. Rücksichtslose Raserei. Was, wenn G. mal einer dieser Lifestyle-Piloten in die alte Karre semmelt? Er könnte sich keine neue leisten. Sollte er dann etwa selbst Carsharing machen? Er sieht sich schon mit dem Familiengeraffel, die Tochter im Schlepptau, und man müsste ja schon vorher wissen, wann das Kind krank würde und zum Arzt müsste. Ein Albtraum.
Da ist ein Besitz, der rostet, vielleicht doch besser als keiner.

Bremse

Hermann Blümel hält Carsharing für überschätzt.

Hermann Blümel hält Carsharing für überschätzt.


In der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung gibt es einen Mann, der nicht zu den Träumern zählt. Er hat schon mit den Petersen-Brüdern gearbeitet. Sein Name ist Hermann Blümel, und er sitzt im Referat für Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik am Köllnischen Park. Es ist nicht einfach, ihn dort zu finden, in diesem klassizistischen Altbau. Dritter Stock, Raum 328, sagt der Herr am Einlass. Es folgt eine längere Wanderung durch schmale, grauweiße Gänge, in denen sich Tür an Tür reiht. Hier also wird Berlin gemacht. Eine sauber sortierte Verwaltungsmaschine.

Die Tür von Raum 328 gibt den Blick auf ein beeindruckendes Stück Leben frei. Da türmen sich Papierstapel einen halben Meter hoch. Auf dem Schreibtisch, auf dem Boden. Dazwischen genau beschriftete Aktenordner und aufgerollte Pläne, und dazwischen wiederum Hermann Blümel, 61 und quietschfidel. Was, wenn er auch nur die Hälfte dieser Studientürme gelesen hat?
„Fangen wir mal mit einer ganz einfachen Frage an“, sagt Blümel. „Was ist denn eigentlich Carsharing?“ Die Antwort ist bestechend und Ergebnis der ausufernden Lektüre: „Das kann nämlich seit 25 Jahren keiner sauber definieren.“


Von A nach A ist nicht von A nach B


Worauf Blümel hinaus will: Die Grenze zwischen Miet- und Free-Floating-Wagen ist so fließend, dass ihr Verlauf nicht wirklich zu klären ist. Aus städtischer Sicht sei aber extrem wichtig, die stationsbasierten Angebote von den flexiblen zu unterscheiden. „Das eine ist A-nach-B-Verkehr, das andere A-nach-A-Verkehr“, sagt Blümel. Bei stationsbasierten Angeboten gehe es um bewusst geplante Fahrten, für die jemand beschließe, ein Auto zu brauchen. Die Autoschwärme von Multicity, Car2go und DriveNow hingegen dienten eher spontanen Einzelfahrten, die meistens auch noch extrem kurz seien, vergleichbar der „verkehrlichen Funktion“ von Taxis. Unter sechs Kilometern liege die Strecke oft, bei einigen Anbietern im Schnitt bei acht bis achteinhalb Kilometern. „Das ist nicht Carsharing im eigentlichen Sinne, sondern ein eigenes Mobilitätsangebot“, sagt Blümel.

Carsharing fülle eine kleine Nische. „Das Angebot ist auch nicht billig. Das nutzen Leute mit überdurchschnittlichem Einkommen und Bildungsniveau, überwiegend Männer, die flexibel arbeiten und bis spät im Büro bleiben.“ Er erzählt von einer Modellstudie, die er zusammen mit der Senatsverwaltung und Forschern in Prenzlauer Berg durchführt. An seinem Bildschirm zeigt er auf ähnliche Karten, wie wir sie im Zuge unserer Datenrecherche erstellt haben. „Schauen Sie sich das an: morgens kaum Ausleihen, mittags immer noch nicht viel – aber dann, ab 19 Uhr abends und die ganze Nacht durch, da steppt der Bär.“

Grafik: Da sehen Sie Rot

Wo werden DriveNow und car2go am Intensivsten genutzt? Die Grafik zeigt, in welchen Bereichen der Stadt am meisten Autos angemietet wurden. Je mehr, desto dunkler der Farbton. Durch Klick auf das Plus-Symbol können Sie beliebig weit in die Karte hinein zoomen – und ganz genau sehen, in welchen Kiezen und Straßen am Häufigsten geparkt wird.


So what?

Ein Hotspot sei das Gebiet rings um die Torstraße, die „Silicon-Allee“, wie Blümel sagt, der Ort, wo die Kreativen arbeiten. „Diese Geschäftsmodelle basieren auf der Nutzung des öffentlichen Raums. Aber es sind Partialinteressen der wenigen Kunden, die das nutzen.“ Und da sie ihr Auto wegen der minutengenauen Abrechnung so schnell wie möglich wieder loswerden wollten, werde Tempo gemacht. Auch würden oft Parkverbote ignoriert– in der Hoffnung, dass der nächste Nutzer schneller da ist als das Ordnungsamt.

Teures Truck-Sharing wegen Parken auf dem Behindertenparkplatz.

Teures Truck-Sharing wegen Blockieren des Behindertenparkplatzes.


Der Beamte Blümel hat einen Sinn für Spannungsbögen. Er setzt an mit der „Kernfrage“ für die Stadt: „Welche Bedeutung hat das für den Gesamtverkehr?“ Atem anhalten. Bei etwa 2500 Autos, die momentan im flexiblen Carsharing unterwegs seien, käme man vielleicht auf 12 000 Wege am Tag, die damit zurückgelegt würden. „Da sage ich: So what!“ Mit dem öffentlichen Verkehrsmitteln werden in Berlin am Tag 3,6 Millionen Wege zurückgelegt, 1,6 Millionen mit dem Fahrrad. Carsharing spiele im Gesamtverkehrssystem der Stadt bislang eine vollkommen untergeordnete Rolle. Blümel ist jetzt in Fahrt: „Wir haben in Berlin 1,15 Millionen zugelassene Privat-PKWs und 1,8 Millionen Fahrräder. Die 2500 Carsharing-Autos fallen da kaum ins Gewicht, selbst wenn jedes davon fünf Autos ersetzt.“ Das sagt Hermann Blümel, der eigentlich Ingenieur ist und früher einmal Autos entwickelt hat.

Für den Moment hat Blümel Recht. Aber dann ist da noch die Geschichte, die DriveNow-Chef Nico Gabriel erzählt. Sie handelt von einer befreundeten Familie, die früher einmal zwei Autos hatte, von denen beide inzwischen abgeschafft seien. Wenn der Sohn jetzt ein Carsharing-Mobil auf der Straße entdecke, sage er, ein kleiner Junge, jedesmal: Guck mal, unser Auto. „Das Kind kennt das Konzept Autobesitz überhaupt nicht mehr“, sagt Gabriel, fasziniert blinzelnd. „Wenn sich das einmal durchsetzt, wäre das für uns bombastisch.“

DIE DATEN

So wurden die Carsharing-Bewegungen analysiert

Die Daten, die die Grundlage unserer Visualisierungen bilden, wurden durch regelmäßiges Aufrufen der Mobilitätsanbieter-Aggregatorseite Mobility Map im Zeitraum vom 9. Mai bis zum 14. Juni erhoben. Für die Animation auf der Startseite wurden die Ergebnisse daraufhin mit Hilfe von PostgreSQL und PostGIS analysiert und mithilfe des Valhalla-Routendienstes von Mapzen geroutet. Die Visualisierung erfolgte mit CartoDB und Unfolding, entwickelt von Till Nagel . Verwendet wurde der Visualisierungs-Codes von Daniele Ciminieri. Zum Clustering der Datensätze für die Heatmap wurde der DBSCAN-Algorithmus verwendet. Das Flussdiagram (Alluvial diagram) zum Verkehr zwischen den Kiezen wurde mit Hilfe von RAW erstellt, einer Entwicklung von Density Design. Alle anderen Diagramme wurden mit der Software Tableau Public erstellt.Das Projekt wurde bei Hack Your City 2015 weiter entwickelt. Wir danken allen Entwicklern hervorragender Open Source Software für ihre Arbeit, ohne die unsere nie möglich wäre.

Carsharing in Berlin auf Twitter


DAS TEAM

 

Hendrik Lehmann

Hendrik Lehmann

Text, Online-Umsetzung

Kai Müller

Kai Müller

Text

Andreas Osowski

Andreas Osowski

Datenerhebung & Analyse

Maria Fiedler

Maria Fiedler

Redaktion

Jens Mühling

Jens Mühling

Redaktion

Jan Oberländer

Jan Oberländer

Redaktion

IMPRESSUM

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Erstmals veröffentlicht am 25. Juli 2015

Text und Recherche
Hendrik Lehmann, Kai Müller

Datensammlung und -analyse
Andreas Osowski

Redaktion MEHR BERLIN
Jens Mühling, Jan Oberländer

Volontariat Redaktion
Maria Fiedler

Fotos & Videoaufnahmen
David Brandt, Kai-Uwe Heinrich, Hendrik Lehmann, Nina Pieroth, Mike Wolff

Website
Hendrik Lehmann

CSS-Beratung
Graceful Haste CD

Fahrer
Moritz Altenried

Verantwortlich im Sinne von §55 Abs. 2 RStV:
Jan Oberländer (Der Tagesspiegel)

Danke an
Fabian Bartel, Weert Canzler, Fabian Federl, Yannick Haan, Matthias Lieb, Falk Pietsch, Florian Ramseger, Bettina Seuffert, Wiebke Zimmer